Montag, 12. August 2002

Lernen und denken

Lernen und nicht denken ist unnütz.
Denken und nicht lernen ist zwecklos.
- Konfuzius

Im Jahr 2002 bereiste der Mann Asien. Er ließ sich dabei von einem jungen Asiaten namens Sato Hiroshi helfen, ein Japaner mit einer sehr ungewöhnlichen Sprachbegabung. Wie kaum ein Zweiter beherrschte er viele lokale asiatische Sprachen. Der Mann hatte ihn Mitter der 1990er Jahre kennengelernt, als er für seine Firma in Asien gewesen war. Als Sato vom Problem des Mannes gehört hatte, kam ihm eine Idee, wo er vielleicht Hilfe finden könnte. Aber der Weg dorthin würde lang und beschwerlich sein.

So begab sich der Mann Ende Juli auf eine Reise nach Kathmandu. Mit dem Flugzeug ging es bis nach Jomsom, von wo aus sich eine sechs Tage dauernde Tour anschloss, über Kagbeni, Tangbe, Chele, Soya La, Tama Gaon, Nyi La, Tsarang, Lo Manthang und Ghemi, bis sie eine Klosteranlage erreichten, das am steilen Pass über einem Flusstal lag. Hier würde der Mann eine Begegnung haben, nach der er sich fortan »Jin’Enom« nennen würde.

Es war der 12. August 2002 gewesen. Dank Satos Hilfe konnten sie tatsächlich mit dem Ältesten des Klosters sprechen, das heißt, der Mann, der Jin’Enom werden sollte, erzählte seine Geschichte, dann seine Suche und seine Idee von der Gemeinschaft, während Sato fleißig übersetzte.
Die Unterredung fand in einem der offenen Räume des Klosters statt. Er hatte keine Fenster im eigentlichen Sinne, aber große Öffnungen in den Wänden, die für geregelten Temperaturaustausch sorgten. Der Älteste, ein Mönch, dessen Alter wirklich schwer zu schätzen war, denn er hatte viele Falten im Gesicht und lange, graue Haare, saß auf einem Sessel aus Holz. Sato und der Mann, der Jin’Enom werden sollte, standen. Nun hatte Sato die Geschichte so weit wiedergegeben. Der alte Mönch schwieg, doch dann griff er nach einem langen Holzstab, der neben dem Sessel gelegen war. Er nahm ihn in beide Hände und stützte sich auf ihn, so dass er sich aus dem Sessel erheben konnte. Dann machte er zwei Schritte nach vorne, blieb vor dem Mann, der Jin’Enom werden sollte, stehen und fixierte ihn mit seinen Augen. Plötzlich sprach er.

»Ja«, kam aus seinem Mund, »Du bist Quysthali

Der Mann, der Jin’Enom werden sollte, traute seinen Ohren nicht. Hatte der alte Mönch tatsächlich soeben Englisch mit ihm geredet? Es musste so sein, denn die ersten drei Worte des Satzes hatte er eindeutig verstanden. Nur das Letzte nicht. Es hatte einen für ihn etwas fremdartigen Klang, es war so etwas wie kwys-tali oder kwis-tali gewesen.

»Ich bin was?«, fragte er überrascht nach.
»Quysthali«, wiederholte der Mönch.
Nun war auch Sato überrascht. Nicht nur, dass dieser Mönch offensichtlich einige englische Sätze kannte, er war sogar in der Lage, sich damit verständlich zu machen. Und als hätte jener die Gedanken des Japaners erraten, ging er auch schon darauf ein.
»Ja, ich beherrsche ein wenig die Sprache der Engländer«, bestätigte er, »genug, um damit sagen zu können, was ich sagen will. Und ich sage Dir, Du bist Quysthali.«
»Was bedeutet es, dieses Quysthali?«, wollte der Mann, der Jin’Enom werden sollte, wissen.
»Es ist ein altes Wort«, sagte der Mönch. »Die Vorfahren unserer Vorfahren brachten es mit, nachdem die Menschheit die große Reise über den Planeten angetreten hatte. Was es bedeutet? So einfach kann man das nicht sagen. Die erste Silbe Qi bedeutet soviel wie Energie, die letzte Silbe Li Prinzip, Ordnung, Vernunft oder Logik. Qi und Li sind Gegenspieler, auf der einen Seite die ungebändigte, ungebremste Energie, auf der anderen Seite die Ordnung, Kontrolle. Dazwischen steht eine Silbe, von der wir vermuten, dass sie sich von dem Wort zhou ableitet, das bedeutet zeitliche Unendlichkeit. Zwischen Energie und Ordnung steht die Unendlichkeit, denn das ist eine große Herausforderung. Für uns ist Quysthali jemand, der unablässig versucht, den Ausgleich zwischen den beiden Seiten zu erreichen. Viele Menschen teilen die Welt in zwei Seiten, eine gute und eine böse. Und dann verdammen sie alles, was sie als böse, und loben alles, was sie als gut definiert haben. Das ist ein sehr einfaches Vorgehen. Aber Du, Du bist Quysthali. Du machst Dir Gedanken. Du hörst, was beide Seiten zu sagen haben. Und dann erst tust Du etwas. Viele Menschen sehen eine Aufgabe und wagen es nicht, sie anzugehen, weil sie sagen, sie können sie sowieso nicht bewältigen. Du nicht. Du siehst eine große Aufgabe und willst etwas tun. Und zwar nicht, indem Du Dir einfach vorschreiben lässt, was Du zu tun hast, sondern indem Du selber denkst. Deinen Weg gehst und diesen immer wieder hinterfragst.«
Der alte Mann drehte sich um, schon sah es so aus, als wollte er zurück zu dem Sessel gehen, doch da hielt er inne. Er drehte sich wieder zurück und sah den Europäer direkt an.
»Man erzählt sich eine alte Geschichte von den Samurai«, sagte er dann. »Einmal gab es einen neuen Schüler, der hieß Jin’Emon. Aber vor ihm hatte es schon einen großen Samurai gegeben, der ebenfalls Jin’Emon geheißen hatte. Die anderen Samurai fanden es anmaßend, dass es da einen geben sollte, der den Namen dieses großen Samurai trug, also zogen sie ihn auf, indem sie, wann immer sie ihn riefen, seinen Namen verdrehten auf Jin’Enom. Wenn er sie korrigierte oder sich darüber ärgerte, lachten sie ihn aus und meinten, er werde nie so ein Samurai werden wie der große Jin’Emon. Eines Tages dann geschah es, dass einige Ronin – das sind Samurai ohne Gebieter – die Schule überfielen. Leider waren zu diesem Zeitpunkt nicht genügend ausgebildete Samurai anwesend, die sich den Angreifern in den Weg stellen konnten. Doch als diese durch das Tor stürmten, da kamen nicht nur die ausgebildeten Samurai, sich ihnen in den Weg zu stellen, sondern auch der Schüler mit Namen Jin’Emon. Der Anführer der Ronin lachte und wollte wissen, wer er sei, dass er glaube, er könne sich als Schüler einfach so ausgebildeten Kämpfern in den Weg stellen. Der Schüler rief, sein Name sei Jin’Enom und er sei ein Samurai. Dann griff er den Anführer an und besiegte ihn mit einem einzigen Streich seines Schwertes. Die übrigen Ronin waren darüber so entsetzt, dass sie sich ergaben und von den Samurai gefangen genommen wurden. Nun kamen die anderen Schüler und wollten wissen, wieso Jin’Emon den Ronin den Namen Jin’Enom genannt hatte, der doch falsch sei. Weißt Du, was er darauf geantwortet hat?«
»Nein.«
»Er sagte: Ich habe erkannt, dass Ihr Recht hattet. Zuerst habe ich mich geärgert, wenn Ihr meinen Namen verdreht habt, doch dann erkannte ich, dass Ihr Recht hattet. Ich bin nicht der große Jin’Emon. Er kann mir ein Vorbild sein, doch meinen Weg muss ich selber finden und selber gehen. Deswegen bin ich von nun an Jin’Enom. Und so wie dieser Samurai-Schüler stehst auch Du an dem Punkt, da Du dies erkennst. Auch deswegen bist Du Quysthali.«
Der Europäer sog Luft ein und meinte, während sich der Mönch in Richtung seines Sessels zurückbewegte: »Ihr habt Recht. Früher einmal, da habe ich so vor mich hingelebt. Ich habe mir zwar Gedanken gemacht, aber weiter nichts. Nun weiß ich, was ich tun muss. Ich bin ein anderer, und deswegen will ich mich, wie der Schüler in der Geschichte, von jetzt an Jin’Enom nennen.«
Sato schob die Augenbrauen nach oben. Der Mönch drehte sich wieder um und lächelte. Dann nickte er, und während er sich abwandte, um nun doch nicht zum Sessel, sondern in Richtung des Ausgangs zu gehen, murmelte er: »Gut. Das ist gut. Sehr gut. Wenn er so weitermacht, dann können wir ihn in weitere Geheimnisse einweihen. Vielleicht zeigen wir ihm… Nein! Wir zeigen ihm den Kelch! Genau das machen wir, gleich morgen, gleich morgen...«
So ging der Alte aus dem Raum. Und der Mann war nun Jin’Enom geworden.